Deutsch-Französische Gesellschaft Paderborn
Société franco-allemande de Paderborn
Annie Ernaux, Les Années – Vortrag von Klaus Pöppmann
Am Dienstag, 5. September 2023 stand die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux im Mittelpunkt einer DFG-Veranstaltung. Klaus Pöppmann – pensionierter Französischlehrer – präsentierte die besondere französische Schriftstellerin im Kolping-Forum.
Klaus Pöpping ist Vorstandsmitglied im Kulturverein in einem kleinen Ort in der Nähe von Osnabrück. Er hält regelmäßig Vorträge über die Nobelpreisträger der Literatur.
Zunächst präsentierte er die Schriftstellerin, die in Yvetôt, einer Kleinstadt in der Nähe von Rouen, geboren wurde. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen und lernt in einem Pensionat Englisch und Latein. Ihr Abitur absolviert sie in Rouen. Sie ist Einzelkind. Erst mit 10 Jahren erfährt sie durch Zufall, dass sie eine ältere Schwester hatte, die gestorben war und über die die Eltern wie eine Heilige sprechen. Annie Ernaux fühlt sich wie ein unerwünschter Ersatz, der genau das Gegenteil von dieser ‚Heiligen‘ ist, eher rebellisch und aufmüpfig. Diese Erfahrung verarbeitet sie in ihrem Roman „Das andere Mädchen“.
Ernaux studiert in Rouen, promoviert in Paris. Sie wird Lehrerin, heiratet und bekommt 2 Kinder. Schnell ist sie frustriert vom Leben als Hausfrau. 1974 verfasst sie das Buch „Les armoires vides“, das diese Leere beschreibt.
1980 lässt sie sich scheiden und lebt mit einem 24jährigen Studenten zusammen.
Von ihrem Nobelpreis erfährt sie aus dem Radio. Ihre erste Reaktion vor den Journalisten, die schon vor ihrem Haus warten: „Je suis heureuse. Je suis fière.“ (Ich bin glücklich. Ich bin stolz). Sie ist stolz darauf, aus einer einfachen Familie kommend es bis zum Nobelpreis geschafft zu haben.
Die Verleihung an Annie Ernaux bekam viel Zustimmung, aber auch Kritik. Beispielsweise kritisiert sie, dass Frauen in Frankreich in Institutionen kein Kopftuch tragen dürfen. In Frankreich betrachtet sie das Tragen eines Kopftuchs als Freiheit, während sie im Iran Frauen ohne Kopftuch unterstützt. Dort wird ihnen die Freiheit durch die Pflicht genommen.
Ernaux zeigt ihre offene Feindschaft gegenüber dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auf die Frage, ob sie mit ihm telefoniert habe, antwortet sie: „J’ai fermé mon téléphone.“ (Ich habe mein Telefon verschlossen)
Die ‚Gilets jaunes‘ werden von Ernaux unterstützt, was ihr ebenfalls viel Kritik einbringt.
Ihr Nobelpreisrede beginnt mit dem Satz: „J’écriai pour venger ma race.“ (Ich werde schreiben, um meine Rasse zu rächen.) Mit ‚Rasse‘ meint sie hier Ihresgleichen, die Menschen ihrer Gesellschaftsschicht. Sie ist stolz darauf, dieser ‚race‘ einen Platz und eine Stimme in der Literatur verschafft zu haben.
Pöppmann geht in seinem Vortrag nun noch genauer auf das Werk ein, das er als das Wichtigste bezeichnet: „Les Années“. Er zitiert und interpretiert, hebt die autobiografischen Hintergründe und die einfache, emotionslose Sprache hervor. Ernaux schreibt kühl und distanziert. Sie entwickelt ihren eigenen unverwechselbaren Ton, der immer eher fragend, nie selbstgewiss klingt.
Ohne Zweifel – eine hochinteressante Persönlichkeit, die hier große Literatur geschrieben hat.